Über 100 Jahre Endophytenforschung oder die Suche nach den Ursachen von Mutterkornvergiftungen ohne Mutterkorn – Was haben wir gelernt?
Von Dr. rer. nat. Renate Vanselow, www.biologie-der-pferde.de
Gräser sind keineswegs immer und überall eine gesunde Futtergrundlage für Weidetiere. Graslandschaften sind uralt und haben ausgeklügelte Strategien zur Selbstregulation entwickelt, damit es nicht zur Überweidung und Vernichtung des Ökosystems kommt. Seit gut 100 Jahren beschäftigen winzige Pilze nun die Wissenschaftler, Pilze, die innerhalb der Graspflanzen wachsen, ohne ihnen Schaden zuzufügen. Diese sogenannten Endophyten haben seltsamer Weise bis heute nicht die Aufmerksamkeit erreicht, die ihnen gebührt. Woran mag das liegen?
Die Geschichte von der Entdeckung der (giftigen) Rohrschwingel- Endophyten, die sogenannte „Tall Fescue Endophyte Story“, hat in den USA landwirtschaftliche Geschichte geschrieben:
Europäischer Wiesenschwingel, importiert aus England, wurde schon vor 1800 in den USA als Futtergras angebaut. Dieses Saatgut war verunreinigt durch den in Europa und Nord-Afrika heimischen Rohrschwingel (lat.: Festuca arundinacea; engl.: Tall Fescue), ein Gras, das dem etwas kleineren Wiesenschwingel sehr ähnlich sieht. Berichte über Grasversuche mit Rohrschwingel in Kentucky und Virginia um 1900 erwähnen das hervorragende Wachstum, die Höhe, die Wettbewerbsfähigkeit (Kampfkraft) und die Dürreresistenz im Vergleich zum Wiesenschwingel.
Bis in die frühen 1940er Jahre wurde in den USA trotz weiterer Grasversuche kaum Rohrschwingel angebaut. Danach kamen zwei Kultursorten dieses Grases auf den nordamerikanischen Markt. Die erste, „Alta“, ist eine Sorte, die ab 1918 durch gezielte Selektion aus einem wilden Ökotyp entstand. Diese Zuchtselektion wurde von der Oregon Agricultural Experiment Station und dem U.S. Department of Agriculture betrieben. Selektionskriterien waren: Winterhärte, Ausdauer und die Fähigkeit, während der trockenen Sommer im westlichen Oregon grün zu bleiben. Die Sorte Alta fand schnelle und flächige Verbreitung in der Region des Pazifischen Nordwestens und in Tallagen der Bergregionen der westlichen USA. Bei der zweiten Sorte „Kentucky 31“ handelt es sich um einen aus Europa eingeschleppten Rohrschwingel, der im steilen Bergweideland von Ost- Kentucky heimisch werden konnte. Dort fiel dieses Weideland 1931 Prof. Fergus von der Universität Kentucky auf. Er war von dem Gras beeindruckt, und zwar, weil es im Winter grün blieb, während die dort heimischen Gräser im Winter braun und strohig verdorrt waren. Prof. Fergus kultivierte das neu eingebürgerte Gras (Neophyt: neu eingebürgerte Pflanze), testete es auf seine Eigenschaften und trug es im Jahr 1943 als Zuchtsorte „Kentucky 31“ ein. Die Eigenschaften des Grases wurden mit Zuverlässigkeit, Anpassungsfähigkeit an eine Vielzahl unterschiedlicher Böden und der Möglichkeit, fast das ganze Jahr zu beweiden, beschrieben. Wie ein Lauffeuer sprach sich dieses „Wundergras“ herum: Endlich stand den Bauern dieser zuvor im Winter öden Landschaft ein grünes Futtergras zur Verfügung! In den 1940ern und 1950ern veränderte sein großflächiger Anbau die gesamte Landschaft der südlichen USA. Die Bauern rissen sich quasi gegenseitig das Saatgut aus den Händen.
Gleichzeitig beobachteten Viehbauern seltsame gesundheitliche Probleme bei ihrem Vieh, für die sie keine Erklärung hatten und die neu waren. Es stand ein Verdacht im Raum, dass diese Erkrankungen irgendetwas mit dem Wundergras zu tun haben könnten. Das berühmt, berüchtigte Gras „Kentucky 31“ geriet langsam in Verruf. Die wirtschaftlichen Folgen dieser Erkrankungen und Tierverluste waren enorm.
Über eine Reihe von Jahren war der Toxikologe Dr. J.D. Robbins vom USDA Russell Research Centre in Athens, Georgia, zu der Überzeugung gelangt, dass in die Schwingelvergiftung ein Pilz verstrickt sei. Die Symptome waren der einer Mutterkornvergiftung einfach zu ähnlich. 1973 gelang es Robbins und seinen beiden Assistenten C.W. Bacon und J.K. Porter drei Pilze der Gattung Balansia aus einem giftigen Rohrschwingel- Weideland in Georgia zu isolieren. Dabei handelte es sich um endophytische Pilze, also Pilze, die innerhalb ihres Wirtsgrases leben. Die Pilze zeigten keine schädigende Wirkung auf das Wirtsgras. In Indien war diese Pilzgattung 1934 als Ursache für Vergiftungen von Rindern und Ziegen auf Gras beschrieben worden. Versuche mit den in Georgia isolierten Pilzen zeigten, dass diese Pilze viehgiftig waren und Mutterkorngifte (Ergotalkaloide) herstellen konnten. Daraus erwuchs die Hypothese, dass ein Pilz für die Viehvergiftungen auf Rohrschwingel verantwortlich sein könnte. Das wiederum beflügelte die Forschung.
Humorvoll beschreibt Prof. Hoveland eine Episode der Tall Fescue Endophyte Story, die die U.S. amerikanische Forschungsbürokratie und die Hürden für innovative Forschung beleuchtet. Am 13. Juni 1972 besuchte Dr. Robbins die Farm von A.E. Hays nahe Mansfield in Georgia. Ihm fiel auf, dass auf einem Rohrschwingel- Weideland Anzeichen von Schwingelvergiftung bei Mastrindern auftraten, dagegen keine in drei angrenzenden Weideflächen. „Er berichtete diese interessante Entdeckung seinem Laborchef im Russell Research Center und bat um die Genehmigung zurück zu kehren und Proben dieser Weideländer für Pilzendophyten nehmen zu dürfen, aber seine Bitte um die Dienstreise wurde abgelehnt und ihm aufgetragen „sich abzuregen“, weil dies offensichtlich nicht als eine Beschäftigung erwogen wurde, die der Mühe wert sei (Korrespondenz von J.A. Robertson an D. Burdick, in Kopie an J.D. Robbins).“(Zitat aus „Origin and History“ von Prof. Carl S. Hoveland, Crop and Soil Sciences Dept., University of Georgia; http://forages.oregonstate.edu/is/tfis/book/tf21c/origin-and-history.pdf (initial posting date: 15.07.2005; last revision: 29.10.2007); download vom 06.07.2008, übersetzt von R. Vanselow) Am nächsten Tag verschwand er ohne offizielle Dienstreiseerlaubnis in seinem privaten Auto. Er fuhr zur Farm von Hays und nahm dort die Grasproben von den Viehweiden. Zurück im Russell Center untersuchte der Pilzforscher C.W. Bacon die Grasproben unter dem Mikroskop. Die Gräser auf den Viehweiden, auf denen die Rinder Krankheitssymptome gezeigt hatten, waren zu 100% mit den endophytischen Pilzsymbionten infiziert. Die Gräser auf den Rinderweiden mit den gesunden Rindern zeigten dagegen einen deutlich geringeren Infektionsgrad mit Endophyten. Die Veröffentlichung von Bacon und seinen Kollegen war die bahnbrechende Arbeit aus dem Jahr 1977. Mit dieser Arbeit konnte erstmals fundiert begründet werden, dass tatsächlich Endophyten das ursächliche Problem der Vieherkrankungen sind. Der Weg für zielführende Weideversuche mit unterschiedlich stark infizierten Futtergrundlagen war frei.
Später stießen diese Forscher darauf, dass bereits 1941 eine Veröffentlichung von Neil in Neuseeland erschienen war, der einen pilzlichen Endophyten in Rohrschwingel und Deutschem Weidelgras gefunden hatte und vermutete, dass diese Pilze Gifte produzieren könnten. Die erste Veröffentlichung eines Grasendophyten überhaupt stammt jedoch bereits aus dem Jahr 1898 von einem Deutschen namens Vogl. Die Abhängigkeit des Endophyten von der Samenverbreitung der Gräser wurde 1933 von Sampson in Wales aufgezeigt. Es lagen also wichtige Erkenntnisse längst vor, es gab aber niemanden, der sie hätte richtig interpretieren und zusammenbringen können. Die Zeit war einfach noch nicht reif gewesen.
Prof. Carl S. Hoveland von der Universität Georgia vermutet für die zähe Aufklärung der Zusammenhänge folgende Ursachen: „J. K . Underwood und Mitarbeiter aus Tennessee bemerkten mit großem Weitblick, dass die Symptome der Tiere denen, verursacht durch Mutterkornvergiftung, glichen, aber sie verwarfen diese Möglichkeit, weil sie keine Fruchtkörper des Mutterkornpilzes (Claviceps purpurea) in Rohrschwingelsamen fanden (unveröffentlicht, 1954). Überraschender Weise wurde dieser Gedanke nicht verfolgt, möglicherweise, weil derartige unvorteilhafte Neuigkeiten den Verkauf von Rohrschwingelsamen einiger Produzenten behindert hätten (persönliche Mitteilung, H. A . Fribourg, wie ihm erzählt wurde vom verstorbenen J. B. McLaren). Statt dessen wurde die Forschung in den 1950ern bis 1970ern auf externe Pilze, pflanzliche Alkaloide, Gifte die in den Gärkammern produziert werden und Anionen konzentriert (Bush et al. 1979).“ (Zitat aus „Origin and History“ von Prof. Carl S. Hoveland, Crop and Soil Sciences Dept., University of Georgia; http://forages.oregonstate.edu/is/tfis/book/tf21c/origin-and-history.pdf (initial posting date: 15.07.2005; last revision: 29.10.2007); download vom 06.07.2008, übersetzt von R. Vanselow)
Seit den 1990ern kommen endlich die ersten endophytenfreien Zuchtsorten des Rohrschwingels, aber auch des Deutschen Weidelgrases auf den Markt. Nach anfänglich überschwänglicher Begeisterung setzte bald Ernüchterung ein: teuer, unsichere Futtergrundlage da nicht resistent, bald neu infiziert.
Seit den 2000ern gibt es die ersten Sorten mit sogenannten „freundlichen“ Endophyten, also patentierten Endophyten, die zwar die erwünschten Resistenzen der Gräser sichern, aber keine schweren Viehvergiftungen verursachen sollen. Professor Nick Hill vom Department of Crop and Soil Sciences an der Universität von Georgia (USA) und seine Kollegen berichten in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 2002 über Ergebnisse von Forschungen an nicht infizierten oder mit ungiftigen Endophyten infizierten Futtergräsern für Rinder: „Eine unglückliche Konsequenz der Entfernung des Endophyten waren reduzierte Lebenskraft und Durchhaltevermögen der Weideformen bei Dürre, Beweidung oder Insektenplagen. Daher ist der Gebrauch von nicht-giftigen Endophyten zum Erhalt des Durchhaltevermögens des Rohrschwingels und des Deutschen Weidelgrases ohne die nachteiligen Effekte auf das Vieh die neueste Entwicklung bei der Schaffung hochwertigeren Futters. Diese Strategie hat die mittlere tägliche Gewichtszunahme um 80% beim Rohrschwingel und um 600% beim Deutschen Weidelgras (Lolium perenne L.) gesteigert.“ (Zitat aus: Crop Science 42:1627-1630; übersetzt von R. Vanselow) Doch auch hier stellt sich Ernüchterung ein: Erneut hohe Kosten, schnelle Verunreinigung mit giftigen Endophyten. Zudem treten erstmals beschrieben tödliche Vergiftungen bei Pferden durch Gifte aus der Gruppe der Loline auf, auf die die patentierte Endophyten gezielt selektiert wurden, weil man diese Gifte als ungefährlich für Säugetiere gehalten hatte.
Seit Herbst 2011 macht die Firma Grasslanz Werbung für ihre neuesten Endophyten- Entwicklungen in Deutschem Weidelgras und Rohrschwingel für die Flugindustrie: AvanexTM. Es handelt sich um Endophyten, die besonders hohe Konzentrationen an Mutterkorngiften produzieren. Verwendung finden Endophyten für Deutsches Weidelgras (Endophyt AR95 in der Zuchtsorte „Colosseum“ von PGG Wrightson Seeds produziert hohe Gehalte an Ergovalin und Lolitrem) und Rohrschwingel (Endophyt AR601 in der Zuchtsorte „Jackal“ von PGG Wrightson Seeds, Neuseeland produziert hohe Gehalte an Ergovalin und Lolinen). Während die infizierten Rohrschwingel speziell als Wildtiermanagement für die Flugindustrie gezüchtet wurden, finden die infizierten Deutschen Weidelgräser im Wildtiermanagement in Parks, Reservaten und Erholungsgebieten Verwendung. Möglicherweise setzt sich der Kunstname „Avanex“ aus den Wörtern Avis (Vogel) und Exitus (Ende) zusammen, denn diese Grassaat hat folgende Eigenschaften: „Ein natürlicher Pilz (Endophyt) der im Gras lebt und Chemikalien produziert, die Vögeln das Gefühl geben krank zu sein, wenn sie es fressen, ohne sie zu schädigen. Dieses endophytische Gras reduziert ebenso die Anzahl an Insekten, wodurch diese Umgebung weniger attriaktiv gemacht wird für insektenfressende Vögel. Die Vögel werden davon abgeschreckt sich auf solchen Grasländern zu versammeln und es war effektiv in der Reduktion der Anzahl von Vögeln an vielen Flughäfen in Neuseeland, wodurch das Risiko der Kollisionen von Vögeln mit Flugzeugen reduziert werden konnte. Es hat das Potenzial zum Gebrauch an Flughäfen weltweit, ebenso für Obstkulturen und Golfgreens in temperaten Umgebungen.“ (Zitat aus der homepage http://www.grasslanz.com/ProductsServices/KeySuccesses/Avanex.aspx (9. August 2012), online seit dem 28.09.2011, übersetzt von R. Vanselow) Bei den unerwünschten Vögeln handelt es sich insbesondere um (Kanada-) Gänse. Kanadagänse reagieren auf giftige Gräser mit verringertem Körpergewicht und mit der aktiven Meidung infizierter Wirtschaftsgräser. Schon davor hatten Flughäfen versucht die Vögel durch giftige Gräser zu vergraulen, aber die mit Wildtypen infizierten Gräser konnten sich weder am Flughafen längere Zeit halten, noch gab es erfolgreiche Verringerungen der Anzahl an Vögeln. Die Gräser waren weder der Dürre und dem Nährstoffmangel an Flughäfen oder dem Windbruch dort gewachsen, noch waren sie giftig genug um Vögel bzw. Insekten zu verscheuchen. Versuche an den Flughäfen mit den neuen Gräsern ergaben folgende Ergebnisse: AvanexTM aus Rohrschwingel oder Deutschem Weidelgras konnte im Vergleich mit von Wildtypen infizierten Gräsern im Mittel über 12 Monate die Vogelzahl um 87% reduzieren, die oberirdischen Anzahl an Insekten um 69% reduzieren und unterirdisch sogar um 88%. Für den maximalen Erfolg muß die vorhandene Vegetation vollständig vernichtet und einige Pflegehinweise beachtet werden, bevor das wertvolle AvanexTM – Saatgut angesät wird. Kann solches , auf besondere Giftigkeit gezüchtetes Gras auf Futterflächen für Weidetiere gelangen? Das wäre fatal, denn Pferde und Rinder können den Zaun nicht einfach wie die Vögel überfliegen und andere Weidegründe suchen. Welches Saatgut darf bzw. muß an deutschen Flughäfen verwendet werden, welche Gesetze gelten hier in Bezug auf das zu verwendende Saatgut? Sind sie gesetzlich privilegiert wie Gärten und Parks, die weder das für die Landwirtschaft geltende Sorten- und Saatgut- Recht (erlaubt nur zertifizierte Zuchtsorten) noch das in der freien Natur geltende Bundesnaturschutzgesetz (erlaubt nur Wildsaatgut) umsetzen müssen und pflanzen und säen dürfen, was gefällt – also auch giftigste Gräser für Zierrasen? Aus Sicht von Pflanzensaft saugenden Insekten wie Getreideblattläusen, die Endophyten übertragen, sind Flughäfen das Tor zur Welt: Der Weg ins Flugzeug, um als blinder Passagier an andere Orte und sogar auf andere Kontinente zu gelangen, ist nicht weit.
weitere VFD-links zu Gräsergiften I - Gräsergifte II
"Kranke Pferde durch giftige Gräser"