von Fachbuchautorin Michaela Maluche
Neben dem Reitweg raschelt etwas im Gebüsch – unser Pferd springt erschrocken zur Seite. Ein Hund rennt am Reitplatz vorbei – unser Pferd startet durch. Wir fassen unserem Pferd ohne Vorwarnung ans Bein – es tritt aus. Wir kommen für einen schönen Ausritt in den Stall – und es genießt grad genüßlich ein Schlammbad. Solche und ähnliche Situationen haben wir alle schon erlebt. Aber warum agieren und reagieren unsere Pferde immer noch so wie ihre wilden Vorfahren?

Die Antwort ist ganz einfach: Es sind die Gene. Pferde haben sich in ca. 60 Millionen Jahren in Körperbau und Verhalten zu den Tieren entwickelt, die sie heute sind. In dieser unvorstellbar langen Zeit haben sie sich laufend an ihre Umwelt angepasst. Natürliche Selektion sorgte dafür, dass diejenigen Tiere überlebten und ihr Erbgut weitergaben, die sich am besten an wechselnde Umweltbedingungen anpassen konnten. Aber solche Anpassungen benötigen Zeit – und wenn wir bedenken, dass Pferde erst rund 6.000 Jahre domestiziert sind, also in irgend einer Form mit uns Menschen zusammen leben, ist das im Vergleich zum gesamten Entwicklungsprozess verschwindend gering. Hinzu kommt noch, dass sich in diesen 6.000 Jahren Haltungsformen, Bedingungen und Nutzung der Pferde durch den Menschen enorm verändert haben. 

Da ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass unsere Pferde heute noch Verhaltensmuster zeigen, die oft nicht in ihren jetzigen Lebensraum hinein passen und manchmal sogar zu gefährlichen Situationen führen. Die Veränderungen sind zu schnell voran geschritten. Hier ein paar Verhaltens-Beispiele, angelehnt an einen kleinen Geschichts-Exkurs:
 
 
-         Die Ur-Ahnen unserer Pferde lebten in feuchten Urwäldern und ernährten sich von Blättern (das tun sie übrigens auch heute noch gern). Sie waren nur fuchsgroß, ideal, um sich im Dickicht zu verstecken. Sie liefen auf weichen Ballen mit Zehen, um leise zu gehen. Ihr Verteidigungssystem war verstecken und nicht entdeckt werden. Ihre Augen waren vorn am Kopf, denn sie mussten im dichten Unterholz nicht weit blicken können.
 
-         Mit der Veränderung des Lebensraums zur Trockensteppe veränderten sich auch die Bewohner. Die Ur-Pferde bekamen längere und kräftigere Beine, einen längeren Hals und ein weiteres Gesichtsfeld (Augen seitlicher am Kopf) zur besseren Übersicht und damit Gefahren-Erkennung. Ihr Verteidigungssystem änderte sich von Verstecken in Gefahr sehen und fliehen. Für das harte Steppengras entwickelte sich ein ausgeprägtes Gebiss.
 
-         Vor ca. 11 Mio. Jahren waren Pferde zu Einhufern geworden, die seitlichen Zehen waren zurückgebildet. Damit war schnelleres Laufen auf hartem Boden möglich.  Das funktionslose Griffelbein ist ein Überbleibsel aus dieser Zeit. Das Gebiss wurde noch differenzierter.
 
-         Vor ca. 1-2 Mio. Jahren sah das Equus unserem heutigen Pferd sehr ähnlich.
 
-         Zum Schutz des einzelnen Individuums lebten die Pferde-Ahnen in Herden und flohen beim geringsten Verdacht auf Gefahr. Dieser vererbte Fluchtinstinkt oder auch das „Kleben“ am Stall bzw an den Artgenossen bereitet uns nun manchmal Schwierigkeiten.
 
-         Im Herdenverband gibt es wie in jedem sozialen Konstrukt eine Hierarchie, Kommunikation erfolgt in erster Linie über körpersprachliche Signale. Das Pferdeverhalten wird durch Triebe, Instinkte und Reflexe geregelt, die meisten Aktionen sind also sozusagen automatisch gesteuert.
 
-         Fellpflege wurde von den Artgenossen erledigt oder mithilfe von ausgiebigem Wälzen. Die Schlammschicht schützte zudem vor Insekten.
 
-         Um den Futterbedarf an kargem Steppengras zu decken, legten die Herden weite Strecken zurück, und der Magen ist klein. So nahmen sie nie zu viel Nahrung auf einmal auf, um nicht zu träge zum Fliehen zu sein und kamen nicht mit ihren Ausscheidungen in Berührung (Infektionsschutz). Alle drei Anforderungen können in heutigen Haltungssystemen häufig nicht optimal umgesetzt werden.
 
-         Pferde haben stets alle Sinne auf ihre Umwelt gerichtet, um mögliche Gefahren ohne Verzögerung erkennen zu können. Sie können Bewegungen (sich anschleichende Raubtiere) in großer Entfernung wahrnehmen. Die Ohren sind um fast 180 Grad drehbar. Sie scheuen manchmal aus für uns nicht ersichtlichem Grund. Wahrscheinlich aber haben wir die Ursache nur nicht wahrgenommen.
 
-         Der Umgang mit den anderen Fohlen aus der Herde prägte die jungen Tiere und lehrte sie das Pferdeverhaltens-Repertoire. Wachsen Fohlen ohne Gleichaltrige auf, können Verhaltensstörungen die Folge sein.
 
-         Die Augen passen sich nur langsam an verändernde Lichtverhältnisse an. Schnelle Veränderungen gab es in der Steppe nicht. Daher hat das Pferd manchmal Seh-Schwierigkeiten bei schnellem Wechsel von Licht und Schatten.
 
-         Jedes Pferd hat einen unterschiedlichen Individualbereich, d.h. einen Radius um sich herum, in dem es kein anderes Pferd duldet.
 
-         Pferde stehen mit den Vorderbeinen zuerst auf, so ist ein fast fliegender Start möglich.
 
-         Die Fohlen sind kurz nach der Geburt in der Lage, schnell mit der Herde laufen zu können (Nestflüchter).
 
-         Herz, Lunge und Kreislauf sind für hohe Sauerstoff-Aufnahme ausgelegt.
 
 
Vor rund 6.000 Jahren entdeckten die Menschen, dass Pferde ihnen zunutze sein konnten. Sie dienten als Fleischlieferant sowie als Reit-/Zug-/Lastentier (Jagd, Krieg, Landwirtschaft, Beförderung). Seitdem passen sich die Pferde weiter an komplett neue Bedingungen an. Heute sind sie größtenteils Sport- und Freizeitpartner für uns. Es gibt keine Raubtiere oder sonstige natürliche Gefahren mehr, vor denen sie fliehen müssen, aber aufgrund der kurzen Zeitspanne ist das neue Leben noch nicht komplett genetisch verankert, so dass die Pferde noch mit ihren ursprünglichen Verhaltensweisen re/agieren. Zudem sind die Anpassungsmöglichkeiten je Pferd begrenzt. Ist es einem Pferd z.B. nicht möglich, sich an nicht so optimale Haltungsbedingungen anzupassen, entsteht Streß. Symptome wie Weben, Koppen, Beißen, Buckeln, usw. werden dann als Unarten oder Verhaltensstörungen bezeichnet – obwohl das Pferd eigentlich nur eine Umgebung haben möchte, in der es zufrieden und gemäß seinen natürlichen Anforderungen leben kann.
 
Wenn sich unser Pferd also mal wieder erschrickt, sein Fluchtinstinkt durch kommt oder es nach Stehzeit erst mal ein bißchen rennen und buckeln möchte, haben wir sicher Verständnis. Wenn wir für artgerechte Haltungsbedingungen und korrekte Bewegung sorgen und es geduldig mit verschiedenen Situationen bekannt machen, bekommen wir unerwünschtes Verhalten nach und nach gelindert. Aber ein Teil von ihm wird immer „wild“ bleiben, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger – es bleibt halt Pferd…
 
 
Weitere Informationen zu Michaela Maluche und ihren Aktivitäten sowie Veröffentlichungen gibt es unter http://www.pferdebesitzer.info.
 

Bilder:

PferdeABC-Tipp im Juli: Das Erbe unser Pferde

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